2011 – Morgen geht’s nach Bornholm
4 Uhr früh. Der Wecker klingelt. 4 Uhr? Es sind Ferien! Ja, aber wir haben eine lange Tagesetappe vor uns. Wir wollen nach Bornholm. Die erste richtige Seereise, die wir mit unserer „Rith“ machen.
„Wir“ das sind Peter, Annette und unser 11jähriger Sohn Leander, die vor einer Woche in Berlin gestartet sind und nun im Yachthafen „Swinemünde Nord“ liegen. „Unsere Rith“ ist eine 42 Jahre alte und 9,80 m lange Segelyacht aus Stahl. Ein topgetakelter Langkieler mit einer Verdrängung von annähernd 6,5 t. Als wir das Schiff vor vier Jahren kauften, war es komplett in seine Einzelteile zerlegt. Seitdem bauen wir es wieder auf. Mit jedem Jahr Bauzeit ist es vollständiger geworden und mit jedem Jahr haben wir uns mit ihm ein Stück weiter hinaus gewagt – zuerst auf die Berliner Gewässer, dann aufs Oderhaff, im letzten Jahr nach Rügen und nun also über die Ostsee nach Bornholm. Wir werden so weit segeln, bis wir kein Land mehr sehen können. Aufgeregt klettern wir aus unseren Kojen.
Eine halbe Stunde später steuern wir „Rith“ vorsichtig zwischen all den anderen Booten hindurch in Richtung Hafenausfahrt. Als wir gestern Abend schlafen gingen, war der Yachthafen voll. Jetzt platzt er aus allen Nähten. Wo immer es eine Möglichkeit gibt, eine Leine festzumachen, liegt ein Boot. Meist Segelyachten von 8m Länge an aufwärts. Verbotsschilder helfen da wenig. Hochsaison eben.
Während hier noch alles in den Kojen liegt und diesen kühlen und diesigen Morgen verschläft, herrscht im Handels- und Fährhafen schon reger Betrieb. Ich halte den Atem an, als sich eine Fähre von den Ausmaßen einer Häuserzeile in Berlin Prenzlauer Berg nur wenige Meter entfernt an uns vorüber schiebt. Der Ausguck an der Brücke winkt freundlich zu uns herab. Sie haben uns gesehen. Trotzdem fühlen wir uns sehr klein und zerbrechlich und atmen auf, als der Kasten uns unbeschadet hinter sich lässt.
Gleich hinter der schützenden Mole der Hafenausfahrt, erwarten uns eine frische Brise und Wellen von 1,5 bis 2 Metern.
Peter klinkt den Karabiner seines Lifebelts, eines Haltegurtes, der ihn gegen das Über-Bord-Fallen sichern soll in das Strecktau ein, das über die ganze Länge des Decks gespannt ist und es ihm ermöglicht, sich angeleint bis zum Bug zu bewegen. Dann steigt er aus dem Cockpit und hangelt sich nach vorne zum Mast. Unvorhersehbar, wie ein Pferd beim Rodeo, bewegt sich „Rith“ in der kabbeligen See. Ich habe alle Hände voll zu tun, das Schiff mit dem Bug im Wind zu halten, damit Peter die Segel hochziehen kann. Auf modernen Fahrtenyachten kann das Segel-Hochziehen aus dem Cockpit heraus erledigt werden. Aber „Rith“ ist ein Klassiker, da ist noch die Arbeit am Mast gefragt.
Segel dicht holen, Kurs 10°, hoch am Wind. Der bläst mit 4-5 Windstärken und heftigen Böen aus Nord-West. „Rith“ nimmt Fahrt auf. Das Steuern bei solchen Wellen ist uns noch ungewohnt und so wird das Dahinrauschen immer mal wieder unterbrochen, wenn sich eine Welle jäh am Bug bricht und uns aufstoppt. Immer wenn ich das Gefühl habe, den Rhythmus gefunden zu haben, auf den ich mich einschwingen kann, kommt so ein „Aufstopper“ oder ein Wellental, in das „Rith“, den Bug voran, hineinfällt, dass der ganze Rumpf erzittert. Und wir haben noch nicht gefrühstückt. Außerdem wird Leander, dem wir das allzu frühe Aufstehen ersparen wollten, gerade wach, ganz durcheinander von dem Geschlingere, in dem er sich wieder findet. Er muss schleunigst an die frische Luft. Nachdem ich ihm beim Anziehen von Segelhose, Jacke und Stiefeln geholfen habe und er ins Cockpit geklettert ist, versuche ich ein paar Brote zu schmieren. Vier Hände wären jetzt schön, oder besser fünf, um mich und die diversen Dinge festhalten zu können, die ich dafür brauche. Die Antirutschmatten, die ich überall ausgelegt habe, erfüllen ihren Zweck nur bis zu einem Neigungswinkel, den wir gerade regelmäßig überschreiten. Ich keile mich also so gut es geht zwischen Kartentisch und Pantry (Kochecke) ein, hindere mit dem linken Ellenbogen das Honigglas daran, von der Arbeitsplatte zu kullern, halte mit dem Bauch das Brotmesser auf, das über die Kante will und drücke den rechten Unterarm auf das Butterpäckchen, während ich mit beiden Händen gleichzeitig Brot, Brettchen und Messer festhalte und Butter und Honig verstreiche. Um Tee einzugießen, passe ich die kleine Pause ab, die sich
immer nach drei Wellen einstellt, dann mit Schwung einen Schwall in die Tasse, die in der Spüle steht. Bin ich froh, dass wir den Tee noch im Hafen gekocht und in die Thermoskannen gefüllt haben.
Schließlich sitzen wir satt und warm in unser Ölzeug verpackt im Cockpit. Richtig gut ist mir nur, wenn ich am Ruder sitze und steuere. Leander fühlt sich im Liegen am wohlsten, nur Peter scheinen die unvermittelten Bewegungen nichts auszumachen – solange er nicht unter Deck geht. Auf dem Jahrmarkt haben sie komplizierte technische Geräte, die einen gründlich und in alle Richtungen durchschütteln. So fühlt sich das hier auch an, mit dem Unterschied, dass das ganze nicht nach ein paar Minuten anhält, damit ich aussteigen kann. Vor uns liegen 74 Seemeilen (137 km), das bedeutet, wenn es gut läuft, eine Fahrzeit von ungefähr 15 Stunden. So gut läuft es allerdings nicht. Zwar zeigt die Logge (der Geschwindigkeitsmesser) die ganze Zeit mindestens 5 Knoten Fahrt (5 Seemeilen in der Stunde) an, in Böen sogar bis zu 7 Knoten, aber unsere Positionen, die wir jede Stunde in die Seekarte eintragen liegen frustrierend nah beieinander. Der Kurs hoch am Wind und die Wellen sorgen dafür, dass die Fahrt, die wir durchs Wasser machen, nicht der Strecke entspricht, die wir bei einem günstigeren Winkel zum Wind und glatter Wasseroberfläche zurücklegen könnten. Im Schneckentempo ziehen wir an Usedom vorbei. Dicke schwarze Regenwolken hängen tief über der Insel. Hier draußen ist es, abgesehen von ein paar kurzen Schauern, wenigstens trocken.
Steuern, regelmäßig die Position in die Seekarte eintragen, mal ein Reff ins Großsegel binden, sonst gibt es nicht viel zu tun. Wo wohl die anderen Segler aus unserem Berliner Segelverein jetzt unterwegs sind? Ob wir Stegnachbar Günther wieder treffen, wie vorletztes Jahr am Schiffshebewerk Niederfinow und letztes Jahr vor Rügen?
Nachdem wir „Rith“ gekauft hatten, suchten wir nach einem Segelverein, der die technischen Möglichkeiten bot, mit unserer, für Berliner Verhältnisse relativ großen und schweren, Yacht umzugehen, der also z. B. einen geeigneten Kran hatte, um „Rith“ im Winter aus dem Wasser nehmen zu können. Wir wünschten uns den Kontakt zu anderen Fahrtensegler, mit denen wir uns austauschen und von deren Erfahrungen wir, als „Greenhorns“ auf diesem Gebiet, vielleicht würden profitieren können. Und nicht zuletzt sollte es eine Kindergruppe geben, in der Leander Segeln lernen könnte, um einen eigenen Zugang zu Wind und Wasser zu bekommen, anstatt angeödet daneben sitzen zu müssen, während wir uns mit unserem Schiff beschäftigten. All das fanden wir im Wassersportverein 1921 in Berlin Karolinenhof, südlich von Grünau.
Den WSV 1921 gibt es – wie sein Name schon andeutet – seit 1921. Begonnen hatte es mit dem Angelsportverein „Rotfeder“, der sich aber bereits ein halbes Jahr später in „Wassersportverein 1921“ umbenannte, da die zu der Zeit um sich greifende Begeisterung für das Segeln mit kleinen Jollen auch viele Vereinsmitglieder erfasst hatte. Man fühlte sich der Arbeitersegelsport-Bewegung verbunden, die seit dem 1. Weltkrieg großen Zulauf hatte und trat ihrem „Freien Seglerverband“ bei.
Von Anfang an gab es für die Mitglieder, die mehrheitlich aus Neukölln, Treptow, Schöneweide und Prenzlauer Berg kamen, Übernachtungsmöglichkeiten auf dem Vereinsgelände. Bis heute erfreuen sich die zu beiden Seiten an die Wände der Bootsschuppen angebauten Räume, „Kojen“ genannt, großer Beliebtheit als Wochenendquartiere im Grünen.
Der Regattasport macht einen guten Teil der Vereinsaktivitäten während der Segelsaison aus. Immer wieder kann sich der WSV 1921 über Klassenmeister in seinen Reihen freuen. Es gibt eine Motorboot-Abteilung und eine sehr aktive Gruppe von Kanuten.
Viele Segler aber zieht es hinaus. Vor allem, seit es keine Beschränkungen der Fahrgebiete mehr gibt, wie zu DDR-Zeiten, als die Küstengewässer nur mit einer Sondergenehmigung befahren werden durften. Die war nicht einfach zu bekommen und wenn sie denn erteilt wurde, war nicht selten ein Teil der Familie, ausgeschlossen, um mögliche Fluchtgedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Seit Polen zur EU gehört, sind auch hier keine zeitraubenden Formalitäten mehr zu erledigen und so ist der Weg nach Stettin, mit gelegtem Mast und unter Motor über Kanäle und Flüsse, in zwei Tagen zu schaffen. Hier wird der Mast gestellt und dann: „Willkommen im ‚Hausrevier’ der Berliner Fahrtensegler.“ Das Oderhaff, der Peenestrom, der Greifswalder Bodden und die Ostsee um Rügen und Hiddensee bieten auch denen viele Möglichkeiten für einen abwechslungsreichen Segeltörn, die nur zwei oder drei Wochen Zeit haben. Ein bisschen neidisch wird manchmal auf die Rentnerinnen und Rentner geschaut, die im Sommer wochen- oder monatelang mit ihrem Schiff herumziehen können und die nach Schweden, Dänemark oder Holland segeln.
Wem das See-Segeln zu aufreibend ist, wendet sich den Binnenrevieren wie Scharmützelsee, Schwielochsee, Mecklenburger Seenplatte oder Müritz zu.
Eine spektakuläre Reise auf eigenem Kiel machte vor einigen Jahren Jörg Lehmann, langjähriges, vielfältig aktives Vereinsmitglied. Ende September 2007 warf er in Karolinenhof die Leinen los, segelte mit seiner 10,20m langen Carat 34 über die Ostsee, die Nordsee und den Atlantik in die Karibik, von dort aus die nordamerikanische Süd- und Ostküste entlang und zurück durch den wegen seiner Sturmtiefs berüchtigten Nordatlantik. Zeitweise wurde er dabei von anderen Vereinsmitgliedern begleitet, große Strecken wie z. B. die erste Atlantiküberquerung, bewältigte er aber auch allein. Mitte Juni 2008 traf er wieder in Berlin ein. (Nachzulesen sind seine Erlebnisse im Internet unter www.kreuz-as-segeln.de)
Es ist 11 Uhr. Seit sechs Stunden arbeitet sich „Rith“ Welle für Welle in Richtung Bornholm voran. Der Wind, der den Vorhersagen nach von West auf Nordwest hätte drehen sollen, kommt inzwischen direkt aus Nord, also von da, wo wir hinwollen. So richtig viel Strecke haben wir noch nicht gemacht. Wenn wir jetzt den ganzen restlichen Weg auch noch aufkreuzen (im Zickzackkurs gegen die Windrichtung fahren) müssen, kommen wir vielleicht erst morgen an. Der Familienrat beschließt abzudrehen und nach Saßnitz zu fahren. Die richtige Entscheidung, wie sich bald herausstellt, denn ab Mittag lässt der Wind immer mehr nach. Dafür kommt mehr und mehr die Sonne durch. Ein paar Stunden später haben sich auch die Wellen beruhigt. Der Wind ist so schwach geworden, dass wir auf den letzen Meilen den Motor anwerfen, weil wir mit den Segeln allein kaum noch vorwärts kommen. Um 18 Uhr machen wir in Saßnitz fest. Etwas enttäuscht sind wir schon, dass aus der Fahrt nach Bornholm nichts geworden ist. Andererseits macht das aber auch den Reiz des Reisens unter Segeln aus, dass wir nicht immer wissen, wo wir morgen sein werden. Dass wir zwar Pläne machen können, am Ende aber Wind und See bestimmen, was daraus wird. Und nicht selten ist es das Unvorhergesehene, das nachher zu den schönsten Erinnerungen gehört.
Jetzt sind wir also hier, lassen uns ein üppiges Abendessen schmecken und genießen das grandiose Feuerwerk, das bei Einbruch der Dunkelheit über dem Hafen abgebrannt wird.
Und morgen geht’s nach Bornholm.
Annette Filitz
P.S.
24 Stunden später laufen wir, nach einem sonnigen Segeltag mit leichtem Wind und spiegelglatter See, in den Hafen von Rönne auf Bornholm ein. Und wirklich haben wir auf der Überfahrt eine Zeitlang kein Land mehr sehen können.